Wo Männer singen …

tsDer Liederkranz Schlaitdorf wirbt mit dem schlichten Untertitel: „Wo Männer singen“. Aber so simpel ist die Sache bei eingehender Betrachtung ganz und gar nicht. Nehmen wir den Slogan zunächst einmal ganz wörtlich:  Wo singt Mann denn wirklich noch? Oder ganz präzise formuliert:

Wo erhebt der ganz normale Durchschnitts-Mann mittleren Alters im 21. Jahrhundert seine Singstimme? Wo singt Mann? Mann singt …

  • unter der Dusche. In der Badewanne.
  • bei der Autofahrt. Aber nur wenn Mann alleine fährt.
  • beim Zahnarzt.
  • bei der Bundeswehr. Beim Marschieren. (Entfällt heute zumeist wegen Abschaffung der Wehrpflicht.)
  • in der Karaoke-Bar. Im asiatischen Raum ein verbreitetes Phänomen, wozu Mann vom Arbeitgeber nach Feierabend genötigt wird (zur Verbesserung des Betriebsklimas).*
  • in der Fankurve.*
  • im Bierzelt.*
  • am Ballermann.*
  • bei Demonstrationen.
  • während und nach der Betriebs-Weihnachtsfeier. So ziemlich alles, nur keine Weihnachtslieder.*

(Für die mit * gekennzeichneten Punkten gilt: ab ca. 1,2 Promille Blutalkohol)

Das Gute zuerst: Mann singt also noch. Aber eine befriedigende Bilanz ist das für mich als Chorleiterin wahrlich nicht. Qualität der Darbietung und Hörgenuss eines möglichen, mehr oder weniger zufälligen Publikums, dürften in den meisten o.g. Fällen eher mäßig sein. Mann singt also eigentlich nur noch, wenn er sich ganz unbeobachtet oder besser: ungehört wähnt, oder wenn Mann in der Masse untergeht.

Vor einigen Jahren war das noch anders. Ganz unmerklich ist offenbar ein Teil unserer Kultur in Vergessenheit geraten, der früher allgegenwärtig war: Das Singen. Unsere Großväter sangen noch bei allen sich bietenden Gelegenheiten. Bei Festen. Beim Tanzen. Beim Wandern. Ganze Gattungen, „Trinklieder“, „Tanzlieder“, „Wanderlieder“, sind daraus entstanden. Zu Großvaters Zeiten sang man noch täglich im Schulunterricht. Das ist heute leider keine Selbstverständlichkeit mehr. Unsere Großväter sangen noch bei der Arbeit! Ein Phänomen, das sich natürlich auf die heutige Arbeitswelt kaum noch übertragen lässt.

Damals hat Mann sich körperlich schwere, monotone Arbeit erleichtert, indem Mann, dem Arbeitsrhythmus angepasste, einfache Lieder sang. Berühmtestes Beispiel ist vielleicht der jamaikanische „Banana Boat Song“: „Come, Mr. Tallyman, tally me Banana“. Morgen- und Abendlieder, Frühlings- und Herbstlieder, Kirchenlieder: Gesang war ganz selbstverständlich in den Tages-, Wochen- und Jahreslauf integriert. Das Liebeslied ist offenbar die Gattung, die sich am ehesten tradieren ließ. Die Liebe – ob Liebesfreud oder Liebesleid – ist auch heute noch beliebteste Inspirationsquelle bei Komponisten und Interpreten. Aber welcher durchschnittliche Mann, mittleren Alters, stellt sich im 21. Jahrhundert noch unter das Fenster seiner Angebeteten und singt ihr ein Liebeslied?

„Moment mal“, höre ich Sie jetzt einwenden. „Aber bei mir läuft doch den ganzen Tag Musik: im Auto das Radio, beim Joggen läuft mein i-Pod mit, im Fernsehen ist jeder Film, jeder Werbespot mit Musik unterlegt,…“. Ja. Musik ist allgegenwärtig. Aber wir konsumieren vornehmlich. Wir sind passiv, nicht aktiv.

„Wo Männer singen“  – Wo singen Männer?  Diese Frage ist schließlich ganz leicht zu beantworten. Wirklicher „Gesang“  und Stimmpflege im ursprünglichen Sinne wird für den Durchschnitts-Mann mittleren Alters im 21. Jahrhundert in den Chören gepflegt, die es in fast jedem Ort noch gibt. Der Liederkranz Schlaitdorf singt. Wanderlieder. Jahreszeiten-Lieder. Liebeslieder. Schlager. Pop-Songs. Und Singen, das ist in Schlaitdorf ein weiter Begriff: Singen, das ist auch Feiern, Lachen, Mitanpacken, Freundschaft, ein lebendiges Vereinsleben.

Ich freue mich sehr, dass es im Schlaitdorf des 21. Jahrhunderts, noch so viele Männer mittleren Alters gibt, die miteinander singen. Und übrigens: Durchschnittlich sind sie alle ganz und gar nicht!

„Wo Mann singt, da lass Dich ruhig nieder – böse Menschen haben keine Lieder.“

 

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